Als stadtteilsegmentierte Nachbarschaftsplattform geht „imGrätzl“ in Wien weit über ein händler- und gewerbefokussiertes Schaufensterportal hinaus. Die Betreiber, die sich aus dem Start-up-Umfeld rekrutieren, formulieren es folgendermaßen: „Unser Ziel ist es mit imGrätzl zur Stadtteilbelebung beizutragen und das Miteinander, lokales und kooperatives Wirtschaften im Stadtteil zu fördern und zu stärken.“ Damit liegt die Plattform funktional näher an digitalen Nachbarschafts- und Quartiersplattformen wie nebenan.de als an lokalen Online-Marktplätzen. 160 Stadtteile bzw. Grätzl* in 23 Wiener Bezirken haben mit „imGrätzl“ einen hyperlokalen digitalen Kommunikationsraum erhalten.

Das Motto von „imGrätzl“ lautet „Alls Gute ums Eck“. Stadtteilakteure haben damit eine Art Community-Hub an der Hand, um

  • lokale Events und Treffen zu organisieren und zu bewerben,
  • sich als Händler oder Dienstleister darzustellen (wobei inhabergeführte Geschäfte und selbstständige Kleinunternehmen im Vordergrund stehen) oder
  • sich als Bürger, Bewohner, aber auch Kunde über das aktuelle Geschehen im Viertel auf dem Laufenden zu halten.

Um über die stadtteilbezogenen Angebote informiert zu bleiben bzw. mitdiskutieren zu können, muss man sich mit einem kostenfreien Profil anmelden. Die Angabe des Wohnortes ist Pflicht. Über stadtteilbezogene regelmäßige E-Mail-Newsletter werden die Nutzer der Plattform dann über ortsrelevante Events, Seminare, Workshops und News informiert – vorausgesetzt die Besitzer von Unternehmensprofilen stellen ihrerseits Informationen zu ihrem Angebot ein.

Durch eine Kooperation mit einem gemeinnützigen Bauträger, der 50.000 Wohnungen in Wien verwaltet, will man das Kommunikationsangebot von „imGrätzl“ via Displays und zugeschnitten auf das räumliche Umfeld in die Hausflure bringen. Damit würde „imGrätzl“ auch ein Stück weit barrierefreier werden, den viele Menschen werden mit der rein webseitigen Plattform ja gar nicht erreicht.

Ein wichtiges Erlöselement der Plattform der morgenjungs GmbH ist ein Anzeigen- und Gutscheinsystem, mit dem lokale Kaufkraft gebunden werden kann. Wirtschaftstreibende investieren unter dem Dach des Grätzls also in Werbung. Wichtig ist den Betreibern, dass das sog. „Grätzlzuckerl“ nicht nur als Onlinevariante, sondern auch gedruckt als Flyer produziert werden kann. Die Erlöse fließen sogar – wenn gewünscht – anteilsmäßig zurück in Initiativen des jeweiligen Viertels. Diese Form der lokalen Spende trägt den Namen „Grätzlmarie“.

Mit dem sog. „Raumteiler“ hat man unlängst ein Werkzeug implementiert, mit dem Raumsuchende und Anbieter von Gewerbeflächen, Praxen oder auch Pop-up-Stores zusammengebracht werden sollen bzw. geholfen wird, sich kostengünstig in Co-Working-Spaces zusammenzutun. In einem städtischen Revitalisierungs- bzw. Umnutzungsvorhaben, der sog. „Mischung: Nordbahnhof“ unter der Projektführung der TU Wien, ist „im Grätzl“ mit dem Raumteiler einer der Projektpartner. Die Plattform ist hier die Basis einer, wie es heißt, „Online- und Offline-Community für neue Formen des kooperativen Wirtschaftens“. Ab Sommer 2017 sollen in der Wiener Nordbahn-Halle Arbeitsräume, Werkstattflächen, Veranstaltungsräume und Ausstellungsflächen zur Verfügung stehen. Nach Auskunft der Plattform-Betreiber häufen sich in letzter Zeit die Anfragen von Bauträgern, die nach neuen Wegen in der Leerstandsbekämpfung und Stadtteilbelebung suchen.

Die Open-Source-Plattform steht seit April 2016 allen 23 Wiener Bezirken zur Verfügung. Im September 2015 startete man zunächst im 2. Bezirk. Die Betreiber haben „imGrätzl“ bewusst so angelegt, dass auch andere Städte/Regionen die Infrastruktur nutzen können.

Bewertung durch LocalCommerce.info

Mit einer digitalen Nachbarschafts- und Quartiersplattform kann es gelingen, insbesondere die Bewohner von Großstädten und Metropolen, die sich noch stärker über Szeneviertel und Stadtteilidentitäten definieren für eine „Nachbarschaft 2.0“ zu begeistern. Hier ist Digitalisierung ein Mittel zum Zweck, um reale Stadtteilgestaltung, Begegnungen, Ideenarbeit, lokale Wirtschaftskreisläufe, Online-Sichtbarkeit von Unternehmen und letztlich alle peer-to-peer ausgerichteten Prozesse mit einer Kommunikationsinfrastruktur zu unterlegen.

Gelungene Umsetzung

Das Frontend von „imGrätzl“ ist mit viel Liebe zum Detail gestaltet, lässt aber auch funktionale Elemente wie den kartenbasierten Ortsfilter nicht missen. Die Illustrationen, die auch im Blog verwendet werden, lassen vermuten, dass hier leidenschaftliche Gestalter(innen) am Werk sind. Die Bildsprache der Plattform ist damit unkopierbar.

Der hohe redaktionelle Aufwand für die Plattform macht sich unter anderem in sehr gut geschriebenen Blogbeiträgen bemerkbar. Unter anderem werden hin und wieder Anleitungen und Tipps platziert, wie man etwa ein Stadtteilfest organisiert und was hinsichtlich der Finanzierung zu beachten ist. Auch unterstützt man interessierte Unternehmer, Händler und „Local Makers“ (O-Ton) bei der Erstellung eines Eintrags. Denn die Betreiber wissen: Aussagekräftige Location-Seiten sind das Salz in der Suppe.

Die begleitende Facebook-Präsenz wird kompetent moderiert, ist mit etwas mehr als 3.500 Followern zwar ausbaufähig, dafür aber auch organisch gewachsen. Zudem kommen geschlossene Facebook-Gruppen zur Anwendung, um etwa die Zusammenarbeit eines Orga-Teams zu koordinieren. Die Pressearbeit der Betreiber ist äußerst vorbildlich. Das Team um Gründerin Mirjam Mieschendahl ist mit Herzblut bei der Sache.

Optimierungsbedarf

Facebook als verlängerter Kommunikationsarm von „imGrätzl“ ist gleichzeitig auch die Gefahr der Plattform. Schließlich will man die Gespräche, die – wie uns schon das Cluetrain-Manifest Ende der 1990er Jahre prophezeite – auch Märkte bedeuten, auf der Plattform halten und damit die Netzwerkeffekte erhöhen. Da die plattforminternen Kommunikationsprozesse aber nicht einsehbar sind, ist eine Beurteilung hier nicht hinlänglich möglich.

Es fällt auf, dass die „Lieblinge“ aus den Stadtvierteln, die im Blog portraitierten Anbieter und Dienstleister, sich schwerpunktmäßig aus der Coaching-, Yoga-, Boutique- und Unternehmerinnen-Ecke rekrutieren. Hier müssen sicherlich die Barrieren zu den Hinterhofwerkstätten, Handwerksbetrieben und mitunter auch weniger zeitgeistnahen Dienstleistern wie Reisebüros oder banale Kneipen und Cafés abgebaut werden. Schießlich gilt es, möglichst viele Locations und Bewohner eines Grätzls zu erreichen.

Die große Herausforderung einer solchen Plattform ist es, mit lokalen Partnern aus Institutionen, Stadtentwicklung, Politik und gewerblichen Interessenverbänden die Reichweite zu erhöhen, ohne den zweifelsohne avantgardistischen Ansatz zu vernebeln. Außerdem müssen sicher jeweils stadtteilverortete Community Manager gewonnen oder angestellt werden, um Prozesse vor Ort online, aber vor allem auch offline zu moderieren und Gewerbetreibende für die Plattform, d. h. für ein virtuelles Schaufenster zu gewinnen. Denn letztlich steht und fällt „imGrätzl“ – bei allem Respekt vor dem Idealismus der Betreiber – mit den Erlösen, die die Plattform mittelfristig abwerfen kann. Solange keine Fördergelder bereitstehen, ist es harte Überzeugungsarbeit. Denn auch „imGrätzl“ muss bisweilen sehr störrische Geschäftsinhaber in den Straßen Wiens vom Segen der Digitalisierung überzeugen.

Fazit

Partizipative Online-Formen des Bürger-Dialogs und Plattformen der digitalen Nachbarschaftshilfe stecken nach wie vor in den Kinderschuhen. Lösungen wie „Frankfurt gestalten“ sind auf der Euphoriewelle des sog. Web 2.0 entstanden, wirkliche Reichweite haben sie leider nie erlangt. Ein Blick auf Teilnehmerzahlen, Kommentaraufkommen oder Interaktionsraten enttarnt so manchen gut gemeinten Vernetzungsansatz als Veranstaltung für Info-Eliten. Nebenan.de wiederum fehlt als relativ gut etablierte Lösung und nationaler Infrastrukturgeber mitunter der individuelle Duktus, der sich auch im Frontend widerspiegelt. Integrierte Lösungen mit Charme und Local Colour wie „imGrätzl“ könnten deshalb eine Lücke zwischen städtisch verankertem City-Management oder gewerblichen Interessengemeinschaften und selbstorganisierten Stadtteilakteuren schließen helfen. „imGrätzl“ wäre in diesem Sinne so etwas wie der digitale Schaltschrank der Synapsen „kommunaler Intelligenz“ (Gerald Hüther).

Auf Grundlage der Infrastruktur von Nachbarschaftsplattformen könnten neuartige Public-Private-Partnership-Modelle zur Stadtteilbelebung entstehen. Glückt deren Reichweitenaufbau, Moderation und Finanzierung bekämen wir eine klarere Vorstellung der Möglichkeiten von mündigen und gestaltenden Bürgern in einer (digitalen) Stadt. Es ist wohl auch kein Zufall, dass sich auch in Deutschland Verbände und Institutionen aus dem Umfeld Stadtentwicklung und Städtebau mit der Thematik beschäftigen. Im April 2017 beispielsweise wurde das Portal „Vernetzte Nachbarn“ online geschaltet, das digitale Nachbarschafts- und Quartiersplattformen listet. Der Internetauftritt ist Bestandteil eines Forschungsprojekts des Bundesverbands für Wohnen und Stadtentwicklung (vhw). Die Aufbereitung und Analyse der Forschungsergebnisse soll eine Diskussionsgrundlage für Akteure aus Politik, Wissenschaft und Praxis liefern.


* In Österreich werden Wohnbezirke, mitunter auch nur ein paar Häuserblocks, liebevoll Grätzl genannt. Diese müssen zwar nicht unbedingt deckungsgleich mit den tatsächlichen Bezirken sein, werden aber bei „imGrätzl“ stadtteilsegmentiert zur Orientierung und als ortsbezogener Filter von Aktionen, Events und Adressen verwendet. Einem amtlichen Bezirk sind im Falle der vorliegenden Plattform also mehrere Grätzl untergeordnet.