Von April 2015 bis Anfang 2020 war das Kiezkaufhaus Wiesbaden eine feste Größe in der deutschen Local-Commerce-Bewegung. Grund dafür war ein visuell und konzeptionell avantgardistischer Ansatz, der sich sowohl in der Philosophie der Betreiber als auch im Frontend bei der Darstellung des Online-Sortiments der Teilnehmer des Online-Marktplatzes mit Shopfunktionalität widerspiegelte.
Als sog. „Shared Value“-Projekt der Werbeagentur Scholz & Volkmer wollte man – wie es in der Selbstbeschreibung heißt – dem „allgemeinen Lieferwahnsinn“ durch steigende Online-Bestellungen und erhöhtem Lieferaufkommen ein nicht nur umweltfreundliches, sondern gemeinwohl-orientiertes Marktplatz- und Lieferkonzept entgegensetzen. Mit einem Projektvolumen von 50.000 Euro und zahlreichen Partnern stemmten die stadtunabhängig agierenden Initiatoren eine bis heute einzigartige Local-Commerce-Infrastruktur für den inhabergeführten Fachhandel in Wiesbaden aus dem Boden.
Ein geradezu genialer technisch-konzeptioneller Ansatz machte aus dem Mangel an Warenwirtschaftssystemen im inhabergeführten Handel eine Online-Tugend: die Darstellung des Online-Sortiments war eine Fotografie drapierter Auslagen oder Regale des stationären Geschäftes. Einzelne Produkte waren darin mit der Preisinformation versehen. Ein Mouseover bzw. der Klick darauf führten zu den weiteren Produktdaten.
Kuratoren des nachhaltigen Konsums
Und kein Betreiber im Local-Commerce-Umfeld nahm das Kuratieren des Marktplatzangebots derart ernst, wie das Online-Projekt aus dem Hause der Wiesbadener Werbeagentur. Es galten dabei relative strenge Aufnahmekriterien für die Geschäfte. So sollte das Lebensmittelsortiment möglichst regional oder biologisch sein. Auch die Non-Food-Abteilung des Online-Kaufhauses war alles andere als gewöhnlich. Hier fanden sich Designer-Artikel, hochwertige Papeterie und Schreibwaren, aber eben auch ein Grundsortiment an Eisenwaren, Klebstoffen und Leuchtmitteln aus einem Traditionsfachgeschäft in der Wiesbadener Innenstadt.
Außerdem fassten die Marktplatzbetreiber selbst in den „Kiezgeschenken“ und der „Kiezkollektion“ Themenkörbe zusammen. So konnten sich die Kunden nicht nur Feinschmecker-Produkte ausschließlich aus Wiesbadener Produktion liefern lassen, sondern auch eine „Damen-Tasche“ geliefert in der „Kiezkaufhaus-Tasche (…) mit einer Flasche Schaum-wein Varichon et Clerc aus der Kiezkollektion, einer Packung Trüffelchips von Trüffel Feinkost, der Castelbel Handcreme Verbena von Weinveritas und Pralinen vom Café Maldaner“.
Mit einem hohen Anteil ein Frischeware und Lebensmitteln hob sich das Kiezkaufhaus ohnehin von Plattformen wie LocaFox oder den eBay City-Initiativen ab. Aber auch im Gegensatz zu städtekooperierenden Infrastrukturgebern wie atalanda blieb man in Wiesbaden der zentralen Philosophie des „hyperlokalen E-Commerce“ (Zitat aus der Selbstbeschreibung) treu: Man versandte Produkte nur bis an die Stadtgrenzen und das konsequent per Cargo-Bike.
Dabei sorgte das Kiezkaufhaus für die Konsolidierung der Bestellungen, denn auch händlerübergreifende Warenkörbe wurden für eine fixe Servicepauschale von 5 bis 7 Euro zum Kunden gebracht. Und noch etwas macht das Kiezkaufhaus besonders: Eine innerstädtische Dependance, wo auch online bestellte Waren abgeholt werden konnten.
Kunden mussten allerdings auch die nötige Kompromissbereitschaft mitbringen. Dies galt nicht nur für Alternativartikel, die der Händler bei nicht (mehr) lieferbaren Produkten für den Kunden ggf. zusammenstellte, sondern auch bei der Angabe der Mengen. Im Check-out-Prozess konnte der Kunde bei loser und Frischeware zwischen den Optionen „Nein, ich möchte eher etwas weniger“ und „Ja, ich möchte gerne etwas mehr“ wählen. Außerdem konnte er seine Zustimmung erteilen, dass der Händler bei ausverkauften Produkten eine Alternative einpackte.
Beim tatsächlichen Kaufabschluss gingen sowohl Händler als auch die Betreiber des Kiezkaufhauses ein Risiko ein. Denn bezahlt wurde erst bei Übergabe der Ware durch den Fahrradkurier – in bar oder mit EC-Karte. Es fand kein Kaufvertrag im Rahmen der reinen Online-Bestellung statt. Im schlimmsten Fall konnte der Kunde also die Annahme der Ware oder eines Teils davon verweigern. Was aus Kundensicht ein Vorteil war, konnte für den Händler und Marktplatzbetreiber – auch ohne das im E-Commerce geltende Widerrufsrecht – schnell zum wirtschaftlichen Nachteil werden. Das Kiezkaufhaus selbst berichtete jedoch von reibungslosen Zahlungsabwicklungen.
Community- statt Kundenbeziehungs-Management
Der Infrastrukturgeber, der sich als eine Art „Lobby für den inhabergeführten Handel“ begreift, setzt auf enge Kundenbindung und Vertrauen. Als bisherige Einmaligkeit im Local Commerce haben die Betreiber den sog. Kiezklub eingerichtet. Dahinter verbergen sich nicht nur eine Lieferflatrate, sondern auch Proben neuer Artikel aus dem Kiezkaufhaus oder Einladungen zu exklusiven Veranstaltungen.
Auf Events setzen die Betreiber auch als Marketingmaßnahme: Beim Kiezkaufhaus Sommerfest präsentieren sich die Händler alljährlich mit realen Marktständen und man kommt mit den Macherinnen und Machern des Konzeptes ins Gespräch. Außerdem organisiert das Kiezkaufhaus Workshops mit Herstellern und Diskussionsabende, zum Beispiel zum Thema „Handel und Mobilität“.
Die Zielgruppe des Marktplatzes freilich, eine am nachhaltigen Lebensstil orientierten Konsumentengruppe, ist relativ spitz und überschaubar. Und eine preisfokussierte Kommunikation auf dem Online-Marktplatz ist alleine aufgrund der Ausgabebereitschaft dieser Zielgruppe nicht zwingend nötig. So wird der Marktplatzbetrieb auch zur Überzeugungstat, die Kundenbeziehung zum Community Management.
Nur konsequent ist es deshalb, dass man sich in des Local-Commerce-Konzeptes auch am Genossenschaftsmodell orientieren will. In der Selbstbeschreibung heißt es:
„Das Kiezkaufhaus, das als selbstständiges Unternehmen (Personengesellschaft) agiert, soll mittelfristig in ein kooperatives, genossenschaftliches oder gemeinnütziges Unternehmensmodell überführt werden. Mit einer Gesellschaftsform, die garantiert, dass diejenigen vom Erfolg des Projektes profitieren, die selber tatkräftig mitarbeiten. So soll verhindert werden, dass ‚Investoren-Interessen‘ über den lokalen, gesellschaftlichen und politischen Zielen des Projekts stehen.“
Die mit Design-Preisen gespickte Initiative hatte es bis 2017 zwar auch noch nicht über Wiesbaden hinaus geschafft, aber das Ziel des engagierten Teams war noch immer, das Kiezkaufhaus auch anderen Städten zur Verfügung zu stellen. Als Partner der „Digitalstadt Darmstadt“ und geplanter Infrastrukturgeber für eine digitale City-Initiative des nordrhein-westfälischen Mittelzentrums Bad Honnef wurde die Idee im November 2018 als Kiezkaufhaus Bad Honnef umgesetzt.
Aktuelle Entwicklungen
Wie bereits erwähnt, wurde der Betrieb der Vollversion des Kiezkaufhauses Wiesbaden Anfang Januar 2020 eingestellt. Aufgrund der Corona-Krise wurde die Software EMILIE, eine Buisness-to-Business-App, entwickelt, um den lokalen Gewerbetreibenden eine Möglichkeit zur kostengünstigen Auslieferung ihrer Produkte anzubieten. Das Kiezkaufhaus Wiesbaden dient in diesem Zusammenhang als Schaufenster für die Gewerbetreibenden.